Es hat fast 10 Jahre gedauert, bis ich den Weg in die Lyrik-Szene gefunden habe. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gibt es keine Literaturhäuser, keine Veranstaltungen von lyrix.
Ein Großteil meiner künstlerischen Sozialisation fand auf Poetry Slams statt. In einer Szene, mit der ich auch immer ein wenig gefremdelt habe, man sich aber auch bemühte mich willkommen zu heißen – nicht alle teilen diese Erfahrung, dies sei nur kurz erwähnt.
Mir wurde zu Anfang und auch zwischendurch signalisiert, dass ich eine Bereicherung für das Format sei. Es hat 10 Jahre gedauert, bis mir jemand aus der Lyrik-Szene sagte, ich könne eine Bereicherung für diese Szene sein und mir das Gefühl gab, am richtigen Ort zu sein. Die Slam-Szene hat ihre ganz eigenen Dynamiken und Probleme, aber um die soll es im Weiteren nur am Rande – ich wurde gebeten, den „Finger in die Wunde zu legen“ und über den deutschen Lyrik-Betrieb sprechen:

Ich sehe eine abschreckend hermetische, überschaubare und elitär wirkende Szene, dessen spaßbefreites und hochkulturelles Gehabe vielleicht ihr größtes Problem ist, bei dem Versuch (junge) Menschen aus Milieus jenseits des weißen Bürgertums zu erreichen.
Eine Freundin war vor einiger Zeit in der Schreibwerkstatt einer namenhaften Lyrikerin. Nach dem eine Teilnehmerin ihren Text vorlas, bekam sie von der Werkstattleiterin das Feedback:
„Das ist ja schon eher ein Poetry Slam jetzt…“
Dieser Satz ist meiner Meinung nach nicht nur sachlich falsch;
Poetry Slam ist ein Format und kein Genre, auch wenn sich über die Zeit im deutschsprachigen Raum gewissen Konventionen gebildet haben – dies aber vor allem, weil man den Kabarettisten und Storytellern (ich verzichte an dieser bewusst auf eine gegenderte Ausdrucksform) das Feld überlies, sich nörgelnd auf Veranstaltung zurückzog, die hauptsächlich von Fachpublikum, Angehörigen und Freund*innen besucht werden, seltener aber von Außenstehenden, die einfach nur Unterhaltung suchen. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Auf Lyrik-Veranstaltungen sind meiner Erfahrung nach vor allem Menschen, die Lyrik schreiben, übersetzen, verlegen usw.
Ein etablierter Übersetzer und Lyriker sagte bei einer Veranstaltung im Haus für Poesie Anfang des Jahres, dass es beim privaten Lesen von Gedichten manchmal nur wenige Zeilen in einem Gedicht sind, die ihn berühren, weil er den Rest vielleicht nicht versteht. Als Übersetzer jedoch ist es seine Aufgabe, den Text vollständig zu durchdringen, weswegen er zwischen dem privaten und dem beruflichen Rezeptionsmodus unterschied. Moment mal – was sagte er da?
Es irritierte mich, dass ich plötzlich eine Erleichterung verspürte:
Es ist in Ordnung, Gedichten nicht immer folgen zu können – wenn selbst er solche Momente hat, dann bin vielleicht auch ich nicht zu dumm, zu unbelesen, zu ungebildet.
Das war bis dato aber nicht das Gefühl, was mir dieser Rahmen gab, in dem das Scheitern am Verständnis eines Textes praktisch gar nicht thematisiert wird. Weder auf der Bühne noch beim Weißwein danach. Um es mit den Worten einer studierten, dichtenden Kollegin mit Abschluss in Politik und Literatur zu sagen: „Manchmal habe ich das Gefühl, diese Veranstaltungen wollen, dass ich mich dumm fühle.“
Auch ich habe studiert. Auch ich habe manchmal dieses Gefühl.
Wie geht es wohl anderen Menschen damit? Menschen die nicht studiert haben? Menschen die nicht selbst schreiben? Ich glaube, die dicksten Mauern in unserer Gesellschaft sind aus Glas. Die tiefsten Gräben zwischen uns sind habitueller Natur.

Laut Aussage eines Teilnehmers, waren beim letzten Treffen junger Autor*innen in Berlin (immer dieses Berlin) etwa vier von 20 Menschen, die zum ersten Mal etwas irgendwo hingeschickt haben und ihr Glück kaum fassen konnten, dass sich Leute für ihre Texte interessieren. Die meisten anderen kannten sich seiner Beobachtung nach schon von anderen Veranstaltungen.  Der Klüngel beginnt schon früh.
Ein Teil der „Inzestiösität“ der deutschen Lyrik-Szene sehe ich auch darin begründet, dass statt jungen Leuten einfach eine freie Plattform zu bieten, sie zu ermächtigen, sich auszuprobieren, wird im Vorfeld ausgesiebt durch unterschiedliche Hürden:
Keine Schreibwerkstatt oder Lesung ohne vorher Text und eine Biografie (idealerweise voller Preise) einzuschicken – als Kind einer alleinerziehenden Krankenschwester, aufgewachsen im eher ländlichen Paderborn, fehlte mir die Bezugsperson, die so etwas mit mir hätte vorbereiten können, aber auch dem Alter entsprechend das Selbstbewusstsein wie vermutlich auch anderen Jugendlichen.
Eine Biografie impliziert die Frage nach erreichten Preisen, Stipendien, Veröffentlichungen. Eine Biografie impliziert „jemand zu sein“. Wer bin ich mit 17? Mit 21? Wer bin ich jetzt, wenn ich noch keinen Preis gewonnen habe? Nicht in Leipzig oder Hildesheim studiert habe? Wer bin ich, wenn ich niemanden kenne? Wer bin ich, wenn mich niemand kennt? Wer bin ich, wenn ich in einer Gesellschaft lebe, die systematisches mein Selbstbewusstsein zerstört – wegen meines Aussehens, Geschlecht, meiner sexuellen Identität, meines wirtschaftlichen, ethnischen, religiösen und sozialen Hintergrundes?

Bei einem regulären Poetry Slam kann i. d. R. (d. h. auf dem Papier) jede Person teilnehmen, die einen selbstgeschriebenen Text dabei und sich rechtzeitig angemeldet hat. Mir geht es jetzt nicht darum, ein Loblied auf das Poetry-Slam-Format anzustimmen. Vielmehr möchte ich dazu anregen, sich inspirieren zu lassen:
Aber statt von der Poetry-Slam-Szene zu lernen, sie zu bereichern oder sich bereichern zu lassen, dass Format durch Teilnahme zu verändern, wird auf die Szene hinabgeschaut und insgeheim oder ganz offen geneidet, wenn es um den Zulauf in Workshops und Veranstaltungen geht. Auf Buchmessen und Lesungen, bei Einsendungen für Wettbewerbe und Magazine überlege ich jedes Mal lange, ob ich erwähne, wo und wie ich künstlerisch sozialisiert wurde. Zu oft musste ich mich rechtfertigen, verteidigen, skeptische Kommentare und Augenrollen über mich ergehen lassen, wenn ich mich „outete“.
An anderer Stelle habe ich mitbekommen, wie gefragt wurde, ob eine Breiten- oder Frühförderung nicht zu einer Art „verwässerten Qualität“ der Lyrik führen würde.

Ich wurde gebeten, diese Plattform zu nutzen, um Forderungen zu stellen:

Ich fordere eine kritische Reflexion der eigenen institutionalisierten Prozesse in Bezug auf Zugänglichkeit zu Wettbewerben, Förderungen, Werkstätten, Veranstaltungen etc.

Ich fordere darauf aufbauend eine aktive Öffnung gegenüber in der Lyrik unterrepräsentierten Gruppen; Menschen mit Behinderungen, mit Migrationsgeschichte. Menschen, deren sozio-ökonomische Herkunftsverhältnisse sich von denen unterschieden, die hier den Durchschnitt bilden.
Um diese Aufzählung abzukürzen: Ich fordere eine aktive Öffnung gegenüber allen, die nicht hier sind.

Ich fordere eine bessere Repräsentation derer, die nicht der Konstruktion Mehrheitsgesellschaft entsprechen durch wirklich offene Bühnen und Schreibwerkstätten ohne Bewerbungsverfahren.

Ich fordere weiterhin einen neuen, differenzierten Blick auf Poetry Slam und andere alternative Literaturformate. Denn solange sich die Veranstaltungen, als Schaufenster des Betriebs nicht ändern, wird auch das Publikum nicht wachsen und werden sich auch keine neuen Stimmen auf die Bühnen trauen.

Solange  Zugänglichkeit nicht über einige Leuchtturmprojekte in Großstädten und bundesweite Wettbewerbe für wenige hinausgeht, muss sich niemand wundern, wenn zeitgenössische Lyrik eine im besten wie im schlechtesten Sinne familiäre Veranstaltung ist, bei der man doch immer wieder den selben Menschen im Publikum wie auch auf der Bühne begegnet und zeitgenössische Gedichte nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung rezipiert werden.
Diversität auf der Bühne, schafft Diversität im Publikum.

Halle, 23.11.2019

Impuls-Statement zum Panel „Poetische Bildung“ auf der Tagung des Netzwerk Lyrik e. V.